1974, da war ich sechzehn, war ich zum ersten Mal mit zu einem Besuch bei unserer Partnergemeinde in Berlin-Köpenick. Wir kamen abgehetzt und zu spät zum Gottesdienst. Das lange Warten und die strengen Grenzkontrollen hatten uns eingeschüchtert, die leeren Straßen Ostberlins einen unwirklichen und abweisenden Eindruck hinterlassen. Und dann wurden wir mit Posaunenchor beeindruckenden Gesang begrüßt. „Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu unsrer Zeit, brich in deiner Kirche an, dass die Welt es sehen kann. Erbarm dich, Herr.“ In der Kirche herrschte Gänsehautatmosphäre. Wir tauchten ein in eine Gegenwirklichkeit. Wir spürten die brennende Sehnsucht nach Freiheit, eine Hoffnung auf eine andere Realität als die, die wie Mehltau über dem Alltag lag.
Seitdem war ich öfter in Ostberlin, als Studentin, Vikarin und angehende Pfarrerin. Wir haben Solidaritätsbesuche gemacht, hinter verschlossenen Türen diskutiert, gemeinsam Andachten gefeiert und die beklemmende Atmosphäre gespürt, das Misstrauen gegen jeden und jede, die Angst, verraten und verkauft zu werden.
Der Fall der Mauer 15 Jahre später war für mich fast so etwas wie ein Gottesbeweis. Es geht doch! Mauern können fallen. Bedrückende Verhältnisse können sich zum Guten wenden. Unsere Hoffnung hat konkrete Anhaltspunkte. Unser Beten, Singen und Arbeiten sind nicht umsonst!
Ich möchte Sie heute Morgen ermutigen zum langen Atem. Denn der ist nötig, wenn wir die weltweiten Zusammenhänge der Gerechtigkeit in den Blick nehmen. Da ist vieles sehr erschreckend und desillusionierend. Die Dinge sind so komplex, dass einfache Lösungen nicht auf der Hand liegen. Aber dennoch ist meine Erfahrung, dass es sich lohnt nicht locker zu lassen und die Dinge, die falsch laufen, immer wieder beim Namen zu nennen. Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten, ist die Devise.
Ungerechtigkeit ist die Realität dieser Welt. Aber wir haben eine Vorstellung davon, dass es gerecht zugehen sollte. Wir haben diese Vorstellung, weil die Bibel uns davon erzählt, dass Gottes Name Gerechtigkeit ist. Unser Glaube gründet sich in der Vorstellung einer guten Schöpfung und eines Lebens in Frieden und Gerechtigkeit für alle. Das ist die Basis und das ist das Ziel.
Für mich hat Gerechtigkeit was mit Anklage zu tun. Ich klage Gott das Elend seiner Menschenkinder. Und weil ich weiß, dass Gott es so nicht gemeint hat mit seiner Schöpfung, weil ich weiß, dass seine Schöpfung gut ist, frage und bohre ich weiter. Gerechtigkeit hat was mit Recht zu tun, und mit Gericht. Also, gibt es ein menschliches Verschulden? Gibt es Verantwortliche? Oder ist alles nur Zufall, Schicksal, Gottes Fügung? Und was kann ich tun – mit meinen begrenzten Mitteln -, um Gerechtigkeit wiederherzustellen?
Auf drei Beispiele will ich näher eingehen.
Das erste: der Verein Heim-statt-Tschernobyl. An die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl kann ich mich noch gut erinnern. Damals, Ende April 1986, war unsere Tochter 3 ½ Jahre alt. Es war ein langes regnerisches Frühjahr gewesen und Ende April schien endlich mal die Sonne so warm, dass wir mit den Kindern im Garten spielen konnten. Als dann nach und nach das Ausmaß des Reaktorunfalls bekannt wurde, standen wir jungen Eltern damals tausend Ängste aus. Aber das war ja nichts im Vergleich zu den Ängsten der Betroffenen im Umkreis von Tschernobyl! Damals entstanden viele Hilfsprojekte, u.a. der Verein Heim-statt-Tschernobyl. Er hat sich zum Ziel gesetzt, Familien aus dem verstrahlten Gebiet im Norden Weißrusslands durch ökologische Hausbauprojekte eine neue Heimat zu schaffen.
Ca. 20 Jahre lang führte der Verein im Sommer bis zu 3 workcamps durch, an denen neben deutschen und weißrussischen Fachleuten auch Studenten und ungelernte Kräfte teilnahmen. Wir haben 2003 mit der ganzen Familie teilgenommen und drei Wochen lang von montags bis freitags 8 Stunden täglich auf dem Bau gearbeitet. Und nach Feierabend und am Wochenende haben wir uns mit der weißrussischen Geschichte und Gegenwart beschäftigt.
Im 2. Weltkrieg haben deutsche Soldaten hier verbrannte Erde hinterlassen. Unzählige Männer und Frauen wurden zur Zwangsarbeit rekrutiert. Im Afghanistan-Krieg wurden die jungen Männer im Namen der Sowjetunion verheizt. Und bis jetzt werden aufgrund der Reaktorkatastrophe Kinder mit Fehlbildungen geboren.
Durch die workcamps sind inzwischen zwei neue Dörfer entstanden, zwei Windräder, eine Kläranlage und eine Gesundheitsstation. Das ist zwar nicht viel, aber für die Menschen, die da beteiligt waren, war es ein Stück Friedens- und Versöhnungsarbeit, und denen, die umsiedeln konnten, hat es eine neue Lebensperspektive eröffnet. Ein wenig Gerechtigkeit ist wieder hergestellt.
Das zweite: das Flüchtlingsthema. Oberflächlich betrachtet sind die Ursachen der aktuellen Fluchtbewegungen schnell ausgemacht: Krieg und Konflikte, Armut und Perspektivlosigkeit in den jeweiligen Heimatländern.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass viele dieser Missstände mit europäischer Kolonialpolitik und den bis heute anhaltenden Ausbeutungs-mechanismen der westlichen Welt zu tun haben.
In Ghana z.B. nahm der Anteil einheimischer Geflügelprodukte am Markt von 1992 bis 2001 von 95 auf 11% ab. Die USA, Brasilien und die Europäische Union hatten den Markt mit Geflügelteilen, Innereien, Flügeln, Hälsen und den knochigen Rücken der Tiere zu Dumpingpreisen überschwemmt. Zu Cent-Beträgen wurden die Reste der Massentierhaltung, die bei uns keinen Absatz finden, angeboten. Die Produktionskosten waren durch den Verkauf der teuren Filets in Europa gedeckt. Einheimische Geflügelzüchter, Landarbeiter und Vermarkter wurden dadurch nahezu arbeits- und einkommenslos. Als das Parlament in Ghana daraufhin die Einfuhrzölle erhöhen wollte, drängte der Internationale Währungsfonds die Regierung, das Gesetz zurückzunehmen. Da Ghana zur gleichen Zeit mit der Weltbank über einen Entschuldungskredit verhandelte, musste es sich dem Druck beugen. Und der IWF argumentierte, ein solcher Schutzzoll schade der Armutsbekämpfung.
Das sind sehr komplexe Zusammenhänge, die wir nicht ohne weiteres beeinflussen können. Aber sich mit diesen Zusammenhängen auseinander-setzen, sie wenigstens zur Kenntnis nehmen, können wir sehr wohl. Was wir essen, wie wir uns ernähren, hat irgendwo in der Welt Auswirkungen. Unser Konsumverhalten ist mitverantwortlich für den Klimawandel. Und unsere Art des Wirtschaftens, die Ideologie vom „immer mehr“ stürzt anderswo Menschen in den Abgrund.
Die großen Migrationsbewegungen unserer Zeit haben Ursachen, die man zurückverfolgen kann. Neben aller spontanen Hilfe und dem bewunderns-werten zivilgesellschaftlichen Engagement in Deutschland haben wir als Kirchen auch die Pflicht, unsere prophetische Stimme zu erheben und den Finger in die Wunden zu legen. Solange wir uns nicht radikal abwenden von der Idee des Wachstums und mit Vehemenz einen anderen Lebensstil fordern und selbst einüben, wird es keine Verteilungsgerechtigkeit geben.
Es ist nicht unser Verdienst, dass wir in einer Zeit leben, in der es Europa gut geht. Aber es ist unsere Verantwortung, unseren Reichtum so einzusetzen, dass es auch anderen gutgehen kann.
Das dritte Beispiel – Menschenrechte und Wirtschaft – hängt mit dem zweiten zusammen. Smartphone, Markenkleidung, Schokolade – all das erscheint uns ganz selbstverständlich. Was viele nicht wissen: Hinter diesen Dingen verbergen sich Geschichten von Hunger, Armut und Menschenrechts-verletzungen. Ob in Textilfabriken in Bangladesch, bei der Ernte von Kakaobohnen in Ghana oder beim Rohstoffabbau in Konfliktgebieten: Menschen schuften unter unwürdigen Bedingungen für Hungerlöhne, sind enormen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt und werden von ihrem Land vertrieben.
Die auf diese Weise gewonnenen Rohstoffe und produzierten Waren sind auch von deutschen Unternehmen beauftragt. In der Öffentlichkeit bekennen diese sich zwar größtenteils zur Nachhaltigkeit – hinter den Kulissen nehmen viele aber Menschenrechtsverletzungen in Kauf.
Den Opfern dieser Geschäftspraktiken bietet die deutsche Gesetzgebung bisher kaum Möglichkeiten, Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen. Die Achtung von Menschenrechten im Ausland gilt als freiwillige Angelegenheit. Die Rechte von Investoren sind in Handelsabkommen dagegen verbindlich verankert und können vor privaten Schiedsgerichten eingeklagt werden. Dieses System der menschenrechtlichen Verantwortungslosigkeit ist untragbar.
Im Juni will die Bundesregierung einen Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte vorlegen. Schon jetzt gibt es allerdings deutliche Signale, dass dieser nur unverbindliche Empfehlungen und Beratungsangebote statt gesetzliche Verpflichtungen vorsehen wird. Ein breites Bündnis, zu dem das Forum Menschenrechte, CIR, ver.di, Brot für die Welt und Misereor gehören, fordert dazu auf, sich an einer online-Petition zu beteiligen, die eine gesetzliche Verankerung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht von Unternehmen im deutschen Recht fordert.
Diese drei Beispiele sollen genügen. Sie zeigen auf, dass wir nicht machtlos sind. Bewusst einkaufen, uns informieren, eine Petition unterschreiben – das klingt nach wenig, nach sehr wenig. Aber es ist mehr als nichts. Und wenn viele es tun, bringt das etwas ins Rollen. Wir gehören großen Organisationen an. Die Kirchen haben hier in Deutschland einen gewissen Einfluss. Der Papst findet Gehör. Das ermutigt viele sich in Bewegung zu setzen und die eigene Trägheit zu überwinden.
Der ÖRK hat eine „pilgrimage of justice and peace“ ausgerufen. Sieben Jahre lang unterwegs sein für Gerechtigkeit und Frieden. Der Klimapilgerweg nach Paris war eine großartige Bewegung in diesem Sinne. An manchen Stellen gibt es kleine Pilgerwege. Wichtig ist, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Für uns ist es Gottes Reich. Dort werden sich einst Gerechtigkeit und Frieden küssen (Psalm 85). Auf dem Weg dahin zählt jeder kleine Schritt, den wir tun!
Pfarrerin Annette Muhr-Nelson, hier rechts neben Karin Kortmann, eröffnete mit ihrem Impuls des Diskussionen im Forum Weltweite Zusammenhänge. Sie ist Leiterin des Amtes für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung (MÖWe)