Ottmar John: „Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gehören zusammen“

  1. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gehören zusammen; sie sind aufeinander bezogen und angewiesen.

1.1 Wenn man die Barmherzigkeit von der Gerechtigkeit loslöst und trennt, bekommen drei fundamentale Kritiken an der Barmherzigkeit Recht. Weil der Glaube der Christen nicht nur ein unkontrolliertes Gefühl ist, sondern einen klaren Kopf und die Prüfung durch die Vernunft erfordert, seien hier die die Kritikpunkte kurz erwähnt. Sie bestätigen, dass es Barmherzigkeit nicht ohne Gerechtigkeit gibt, oder anders gesagt, dass wirkliche Barmherzigkeit auch immer Gerechtigkeit will.

– Auf den ersten Blick scheint Barmherzigkeit nichts als Inkonsequenz zu sein. Jemand hat eine Schweinerei begangen: Schwamm drüber. Richtig prekär wird die Sache dann, wenn die Täter der Geschichte, die am Elend der Menschen Schuldigen Barmherzigkeit von ihren Opfern verlangen – wie nach dem Krieg eine rechtsradikale Partei von den Juden Vergebung verlangten, Vergebung, an die sich ihre Parteimitglieder nie gehalten haben…

– Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist Willkür. Wer meint, Barmherzigkeit allein reiche aus, angesichts der großen Zahl von Flüchtlingen und Vertriebenen, begnügt sich mit seinen eigenen, menschlichen Mitteln und seien es die von Bill Gates, dem es bekanntlich gelungen ist, den Computernutzern auf der Welt so allerhand Milliarden aus der Tasche zu ziehen. Ehrlicherweise muss man sagen, sie haben sich diese Milliarden auch aus der Tasche ziehen lassen. Nur einigen Menschen helfen zu können, damit können sich Christen nie abfinden. Barmherzigkeit gegenüber denen, denen wir helfen können, üben Christen immer mit dem schlechten Gewissen, andere dem manchmal schlimmen Schicksal überlassen zu müssen. Aber wer meint es gäbe keinen anderen Weg als den der individuellen Barmherzigkeit, begnügt sich mit seinem eigenen Vermögen, mit dem was er kann. Nicht selten sonnt er sich in dem Gefühl, ein guter Mensch zu sein. Und in diesen Zusammenhang passt das oft zu hörende Argument: Um Hilfe leisten zu können, muss man sich erst einmal in die Lage versetzen, dieses auch zu können. Man muss Vermögen akkumulieren, damit man es an andere Verteilen kann. Muss man es anderen wegnehmen, um es ihnen zurückgeben zu können??? Muss man erst mal Elend produzieren, damit man es anschließend lindern kann???

– Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit führt nicht selten zur Überheblichkeit. Barmherzigkeit endlicher Menschen missrät zum Mittel, sich selbst über andere zu erheben und auf den Hilfsbedürftigen herab zu sehen. Oft ist es das Deckmäntelchen dafür, andere Menschen zu erniedrigen, sie spüren zu lassen, dass sie auf andere angewiesen sind. Barmherzigkeit so missverstanden dient den Bedürfnissen nach sozialer Distanzierung der Wohlhabenden, nicht so zu sein wie die da unten.

 

1.2 Barmherzigkeit ist die individuelle Dimension der Solidarität. Sie ist immer auf Gerechtigkeit angewiesen. Trennt man aber die Gerechtigkeit von der Barmherzigkeit, wird es noch schlimmer. Der Glaube, den es nicht ohne die Vernunft gibt, gibt es auch nicht ohne die gesellschaftstheoretische Analyse der Fehlformen den Tugenden.

– Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist leer. Sie geht über die konkrete Lebenssituation des individuellen Menschen hinweg und ist zunächst nichts anderes als ein abstraktes Gleichheitsprinzip. Sie gewinnt die Erkenntnis der Gleichheit aller Menschen durch das Absehen von aller individuellen Besonderheit. Weil sie nicht auf den Stand der Menschen schaute und sie von Geburt an für ungleich hielt, deswegen konnte in der französischen Revolution die moralische Tugend der Gerechtigkeit in ein politisches Programm transformiert werden. Allerdings für einen gewaltigen Preis: Auch von der sozialen und körperlichen Individualität eines Menschen muss abgesehen werden. Jeder hat das Recht, unter den Brücken zu schlafen, durchschaute Victor Hugo scharfsinnig das abstrakte Gerechtigkeitsprinzip. Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist blind gegenüber der Tatsache, dass die einen unter den Brücken schlafen müssen, weil sie nichts besitzen, und die anderen es nicht brauchen. Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist zynisch.

– Im Kern ist Gerechtigkeit eine Äquivalenz- und Tauschprinzip: Wer anderen ein Auge ausschlägt, wird nicht getötet, sondern bekommt auch nur eine Auge ausgeschlagen – ein Gewinn an Humanität. Nichts gegen das ausgeschlagene Auge zu machen, ist jedoch keine Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist keine Innsequenz und Schlappmeierei, sie scheut nicht den harten Einsatz um mehr Menschlichkeit. Ja, der Einsatz der Barmherzigkeit ist höher. Sie sorgt für Bedingungen, dass sich Täter und Opfer wieder versöhnen können, und das impliziert, dass der Täter sein Unrecht wieder gut machen kann.

– Gerechtigkeit steht im Ursprung der Frage, wie Äquivalenzverhältnisse zwischen den Produkten menschlicher Arbeit herstellbar sind, so dass sie auch über große Entfernungen gehandelt werden können. Das setzte voraus, von ihrer konkreten Materialität abzusehen und sie in ihrem Tausch- bzw. Geldwert darzustellen. Diese Verwandlung der Dinge und sog. ideelle Werte in Waren gewinnt den Fernhandel und am Horizont die Globalität der menschlichen Beziehungen. Sie opfert letztlich die aufgewandte Arbeit und menschliche Mühe, die zur Produktion von Gütern erforderlich ist, und letztlich auch den Gebrauchswert: Es gibt das Phänomen, dass sich Menschen am Besitz von Kapital berauschen, mit dem sie nicht, aber auch gar nichts anderes anfangen können, als es in anderes Kapital zu investieren, um es zu vermehren. Gerechtigkeit, die mit Barmherzigkeit verbunden ist, durchbricht die Dominanz des Geldwertes. Das kommt ziemlich genau in dem Selbstbewusstsein der CAJ zum Ausdruck: Ein Arbeiter ist mehr wert als alles Geld der Welt.

– Hinter der Auffassung, dass ein abstraktes Prinzip der Gerechtigkeit ausreiche, steht oft genug die Vorstellung der Gesellschaft als Maschine. Sie muss nur durch die richtigen allgemeinen Gesetze zum reibungslosen Funktionieren gebracht werden, und alles ist perfekt. Jedem Rädchen sein Ort und seine Umdrehungsgeschwindigkeit. Dass das Ganze funktioniert, liegt an den Bauprinzipien, d.h. an der Gerechtigkeit, die im Maschinenlaufwerk verwirklicht ist. Das einzelne Rädchen braucht keine eigene Motivation, sich zu drehen. Niemand muss etwas wollen und zum Ganzen beitragen. Das würd in dieser Vorstellung nur den Maschinenstaat stören. Die Kämpfe für Gerechtigkeit finden in den Parlamenten statt, dort wo allgemeine Gesetze formuliert und erlassen werden statt. Es müssen nur die richtigen Maschinenbauer hineingewählt werden. Aber wo bleibt dann der Wille zur Solidarität, der auch dann sinnvoll ist, wenn er nicht kurzfristig Wahlkämpfe für sich entscheiden kann, wenn das große Ganze weit weg ist und ziemliche Ratlosigkeit über den Bau der Maschine herrscht, weil sich alles unaufhörlich schnell verändert…

Gerechtigkeit braucht die Haltung der Barmherzigkeit, damit sie im Leben eines Menschen konkret und sinnlich-materiell spürbar werden kann. Sinnlich-materiell ist noch nicht das Geld, das einem Menschen für ein Leben in Würde zusteht, sondern die Nahrung, die Kleidung und die Wohnung, die er mit dem Geld erwerben kann. Und sinnlich-materiell sind Begegnung, Hilfestellungen, Ratschläge und Gespräche in face-to-face Situationen. Und Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit schlägt um in Willkür und Überheblichkeit. Wenn Gerechtigkeit im Erfahrungsraum eines einzelnen Menschen spürbar werden muss, so bedarf die Barmherzigkeit des Horizontes aller Menschen, um nicht willkürlich zu werden. Sie muss sich als universale Gerechtigkeit verwirklichen wollen.

  1. Christen glauben an den Gott, in dem Barmherzigkeit und Gerechtigkeit identisch sind.

Von dem Gott, der sich aus der Befreiung des unterdrückten Volkes aus der Sklaverei Ägyptens und der sich in der Auferstehung Jesu von Tod offenbart hat, erhoffen Christen, das jedem einzelnen Menschen Gerechtigkeit wiederfährt und das alle Menschen, nicht nur einige seine unendliche und allmächtige Barmherzigkeit erfahren.

Dieser Glaube hat zwei wichtige Kritiken erfahren, die ihn klären helfen. Denn Glaube gibt es nicht ohne Vernunft, Kritik kann ihn klären und besser verstehen helfen:

– Darauf zu setzen, dass Gott am Ende der Zeit, im jüngsten Gericht, allen Menschen Gerechtigkeit und Vergebung zugleich zuteilwerden lässt, ist Vertröstung. Sie verleitet die Christen dazu, ihre Hände in den Schoß zu legen und zu warten: Gott wird es schon richten. Maximalforderungen seien hinderlich, das machbare auch wirklich zu machen. Waren bisher nicht die radikalsten Kämpfer für Gerechtigkeit diejenigen, die aus dem Selbstbewusstsein handelten, dass es nur auf sie allein ankommt in diesem Kampf? Was ist aber, wenn der Kampf verloren geht? Was machen sie dann? Unterwerfen sie sich und passen sich den Siegern an?- muss man als Gegenfrage stellen. Ich werde den Verdacht nicht los, dass die Kämpfer für Gerechtigkeit ohne Gott allein deswegen den einen oder anderen Erfolg errungen haben, weil sie ihre Sehnsüchte und Erwartungen auf das menschlich Machbare heruntergeschraubt haben. Das war auch das Prinzip des Kapitalismus: Er verspricht, alle ihre Sehnsüchte zu erfüllen, wenn sie sich an die Spielregeln des Kapitalismus halten und nur das ersehenen, was der Markt ihnen liefern kann.

– Nun ist diese Kritik allein schon deswegen gegenstandslos, weil der Glaube der Christen nie ein Ruhekissen war. Er war immer verbunden mit einer moralischen und auch politischen Praxis. Die Protestanten haben den Katholiken vorgeworfen, sie wollten sich das Himmelreich durch gute Taten verdienen. Das heißt, Katholiken wollten den Himmel aus eigener Kraft erreichen. Wenn denn die Katholiken die protestantische Kritik verstanden haben und das Himmelreich tatsächlich nicht mit dem menschlich Machbaren identifizierbar ist, und wenn wir gleichzeitig darauf beharren, dass der Glaube an Gott nur in einer Praxis der Nächstenliebe lebendig werden kann und immer darin besteht, Gottes Gebote der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit schon jetzt auf der Erde in einer Praxis anzustreben, dann exponieren sich die Christen einer zweiten Kritik: Ist dieser Glaube, der schon jetzt Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zugleich üben soll, nicht eine restlose Überforderung der Menschen? Und bremst nicht diese Überforderung auch die Lust der Menschen, leicht erreichbare Ziele anzusteuern, deren Ansteuerung dann auch noch Spaß macht. Vielleicht macht er keinen Spaß, sich selbst zu überfordern, weil die Zeiten einfach kein entspanntes Dasein im hier und jetzt gestatten. Sich überfordern zu lassen ist aber auch die Voraussetzung eines jeden Lernprozesses. Sich überfordern zu lassen, heißt wachsen zu wollen. Und sich überfordern zu lassen heißt, sowohl im Verhältnis zu Gott als auch zu anderen Menschen: Sie trauen uns zu, die Überforderung zu bestehen und mit ihr gut umgehen zu können.

Gut umzugehen mit der Überforderung, dass Barmherzigkeit gerecht und Gerechtigkeit barmherzig sei heißt zuerst, jeder Rhetorik ihrer Unvereinbarkeit zu widerstehen. Im aktuellen Kontext heißt das: Nächstenliebe kennt keine Obergrenzen – wie es ein Weihbischof eindringlich formuliert hat. Barmherzigkeit nur für Deutsche hat nichts mit dem Glauben der Christen zu tun. Gerechtigkeit ist nicht bloß Tauschgerechtigkeit, sondern Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit verschwistert sucht jedem einzelnen gerecht zu werden, seiner Lebenssituation, seinem sozialen Status, letztlich auch seinen Hoffnung und Sehsüchte über den Tod hinaus. Sie müssen Platz haben in einer demokratischen Gesellschaft, sonst lebten wir in der verwaltetet Welt.

  1. Nächstenliebe und Barmherzigkeit haben universale Ansprüche.

Und diese universalen Ansprüche sind dann eine Bereicherung unseres Lebens, wenn wir eine Instanz denken und anrufen können, angesichts derer unserer Forderung, dass allen Menschen Gerechtigkeit widerfährt, keine leere Forderung ist. Sowas darf nicht nur dahin gesagt werden, ist kein bloßes Wortgeklimper. Wenn wir uns für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit einsetzen, dann ist das letztlich nicht absurd, weil wir auf eine allmächtige Güte setzen. Auf sie setzen können wir nur in der Praxis der Gerechtigkeit und aus ihr heraus. Mit ihr wird es sinnvoll, auch über die Grenzen bisheriger menschlicher Kraft hinaus zu denken. Ich habe nie verstanden wie Christen sich in Diskussionen einlassen können, wie viele Flüchtlinge wir aufnehmen können. Wenn ein Kind im reißenden Fluss ertrinkt fragt man auch nicht, ob das Wasser für eine Rettungsaktion eine angenehme Temperatur hat. Natürlich sind auch Christen endliche Menschen, die nicht alles können. Aber es ist den Christen wesentlich, über die menschliche Begrenztheit hinaus zu schauen und zu handeln. Ich bin überzeugt, dass in der Bundesrepublik die Grenzen der kommunalen und staatlichen Verwaltungen nicht die Grenzen lebensweltlicher Solidarität und Hilfsbereitschaft, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sind.

Im Horizont des christlichen Glaubens schließen sich Barmherzigkeit und Gerechtigkeit ein. Wer Barmherzigkeit übt, hat einen besonders direkten Draht zu Gerechtigkeit; denn wer Barmherzigkeit übt, leidet daran, als einzelner Mensch nur diesem individuellen Menschen beistehen zu können Er möchte eigentlich alle retten, aber dazu braucht es mehr – Gemeinschaften und letztlich Gott. Und wer Gerechtigkeit fordert, wird immer auch mitbedenken, dass es konkrete politische Subjekte braucht, die Gerechtigkeit wollen. Das ist in den gegenwärtigen Debatten das Problem, dass wir gar nicht mehr nur um die angemessenen Mittel streiten, sondern ob Gerechtigkeit und Barmherzigkeit überhaupt erstrebenswert Ziele eines Gemeinwesens sind. Gerechtigkeit, der das Lebensschicksal der einzelnen Menschen egal ist, ist unbarmherzig. Barmherzigkeit nur für Volksgenossen oder die man als solche definiert, verneint den Horizont Gottes. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass individuelle Menschen Gerechtigkeit wollen – und dieses Motiv wäre das der Barmherzigkeit. Ohne dass Menschen aus Motiven der Barmherzigkeit heraus Gerechtigkeit wollen, könnte es keine Gerechtigkeit geben, die die Menschen auch am eigenen Leibe und in zwischenmenschlichen Beziehungen spüren.

– In der Weise wie Christen auf die Menschen zugehen, wird ganz viel, ja das Entscheidende von der frohen Botschaft und dem Glauben an Gott sichtbar und erfahrbar. Christen sind besonders sensibel darauf, dass sie nicht Wolkenkuckucksheimen auf den Leim gehen. Das ist die Schule der Religionskritik, durch die sie gegangen sind. Den Menschen etwas vor zu machen und sie aufs Jenseits zu vertrösten, ist eine Kritik, der es standzuhalten gilt. Es geht nicht nur um eine abtrennbare Seele, sondern um den ganzen Menschen, um seine Sorgen und Nöte, um seine Sehnsüchte und Hoffnungen.

– Wir sind nicht von der Welt erlöst, sondern wir sind erlöst zur Verwandlung der Welt in die Heimat aller Menschen, auch derer, die marginalisiert und exkludiert sind, auch derer, die fremd und heimatlos sind.

–  Gott finden wir nicht, indem wir uns von der Welt und Gesellschaft abwenden und in eine Nische zurückziehen, sondern indem wir immer weiter in die Welt hineingehen.  Unsere Gemeinden und Gruppen, Verbände und Gemeinschaften sind Schulungsorte der sozialen Konfrontation – die Welt kennen lernen, so wie sie wirklich ist, nicht wie unsere massenmedial inszenierten Phantasien uns vorgaukeln. Die inszenierten Katastrophen gewöhnen uns an das Elend. Sie machen uns fühllos gegenüber dem wirkliche Leid der Armen und Benachteiligten. Und wenn wir immer weiter in die Welt hineingehen, finden wir den – das war schon für die Weisen aus dem Morgenland vor 2000 Jahren nicht ganz einfach, das kann auch heute nur gelingen, wenn man aufbricht zu den Menschen.

Dr. Ottmar John, hier als Mitglied im ND, leitet das Referat Pastorale Entwicklung der Bischofskonferenz